Gastbeitrag von Jürgen Boese: Hirn Leer? Oder: Wie aus einer Provinz eine Wüste wird
Autor: Carsten Tergast
Ab und an sind auf diesem Blog auch Gastbeiträge gern gesehen. Heute schreibt Jürgen Boese, Mitglied der Oldenburger Impro-Theater-Gruppe „Wat Ihr Wollt“, über das seiner Meinung nach zu dünne Kulturprogramm in Leer und die scheinbare Unlust der Leeraner auf mehr Kultur.
Dieser Tage habe ich erfahren, das in Leer schon wieder eine Konzertveranstaltung ausfallen musste. Zu wenig Karten im Vorverkauf, so dass sich die Anreise der Künstler finanziell nicht lohnen würde. Ein Auslöser, der mich schon länger aufgestauten Frust in einen Leserbrief an die Zeitung formulieren ließ, den diese bis heute nicht druckte.
Flo Fernandez und XR Farflight, zwei hoffnungsvolle Bands aus der Indieszene Hamburgs, hatten sich angekündigt. Natürlich sind die Bands noch unbekannt, aber ist das ein Grund diese Veranstaltung so mirnichtsdirnichts, trotz hoher Qualität, links liegen zu lassen? Woran liegt es, dass in Leer kulturelle Veranstaltungen so schlecht besucht werden? Das Zollhaus hat Probleme, Zuschüsse werden gestrichen, Veranstalter holen Künstler lieber in größere Städte. Wohin soll das führen? Was hat Leer zu bieten? Was ist los mit der Bevölkerung, die zweifelsohne doch irgendwo vorhanden sein muss? Was soll Leer bieten? Stimmt etwa wirklich das Klischee des bequemen Ostfriesen, der sich nicht vom Fernseher lösen kann, in dem Mario Barth schlechte Witze über seine Freundin wiederholt oder sind es die Gewohnheiten, sich auf nichts Neues einlassen zu können, sich höchstens Mal auf dem Gallimarkt die Kante zu geben? Natürlich ist Leer keine Studentenstadt, aber ist denn der Anspruch so gering?
Dingel Dingel, Atzen Party, Zicke Zacke, Zicke Zacke….Nein, es geht hier keinesfalls um dem Konsum von Alkohol, sondern nur um die Feststellung, dass anscheinend das Ausgehverhalten streng nach dem Alkoholkonsum strukturiert wird. Party ist da grad noch drin.
Dann ist da noch die Presse. Eine Independent-Veranstaltung hat es da sicher doppelt schwer. Aber warum werden so wenige Ankündigungen in der Zeitung gemacht, wenn nicht gleich das große Geld im Spiel ist? Ist es da dann doch immer interessanter, über Lieschen Müllers entlaufene Katze zu berichten?
Vielleicht erreiche ich ja jemanden über diesen Text. Texte kommen ja an. Der trendige Poetry Slam wird ja übermäßig besucht in Leer. Anscheinend ist da ja doch jemand, irgendwo da draußen in Ostfriesland. Traut euch!
Tags: Gallimarkt, Juergen Boese, Kultur, Leer, Oldenburg, Wat Ihr Wollt, Zollhaus
5. Oktober 2010 at 17:57
hihi, also du hast schon Recht, andererseits scheinen aber viele Veranstalter auch heute noch nicht die „jüngere Generation“ zu erreichen.
Zeitung ist nicht mehr das ultimative Werbemittel, und doch scheinen viele darauf zu vertrauen.
Bis heute muss ich hinter Veranstaltern her laufen und um nähere Details und Werbegrafiken bitten, damit wir diese bei uns veröffentlichen können – dabei sollte es eigentlich anders herum sein.
Ich glaube es ist falsch den Stein hier nur in eine Richtung zu werfen:
Sicherlich mag der gemeine Ostfriese zur Gemütlichkeit neigen (bei dem Schietwedder 😉 ), aber leider scheinen Veranstalter dies noch weitaus häufiger.
Andererseits gibt es aber auch Hoffnung. Pixxen etwa hat es bereits einige Male geschafft und Nachwuchskünstlern eine Plattform geboten. Auch der Poetry-Slam zeigt ja, dass Kultur nicht gänzlich „out“ ist.
Trotzdem ist es wohl noch eine große Baustelle.
Leider
Gruß,
André
http://www.partynation.tv/
6. Oktober 2010 at 21:09
Hallo Jürgen,
ich kann Dir nur zustimmen, was der Anspruch der Leute angeht. Die Stadt Leer bietet, finde ich, ein gutes Spektrum an kulturellen Veranstaltungen. Ich will nur mal die Tucholski Kulturbörse als Beispiel geben, wo schon einige echt gute Kabarettisten, auch unbekannte, aufgetreten sind. Wir gehören dort immer zu den jünsten im Speicher.
Es gibt Jazz im Speicher, die angesprochenen Events im JuZ, Zollhaus und einmal im Jahr Leer Live mit Bands in den Kneipen. Das wird jedesmal sehr gut angenommen.
Aber wenn man sieht, wie erfolgreich Mario Barth ist mit seiner Dauerwiederholung oder die Radiosender mit ihren flachen Morningshows, die großen Applaus in der breiten Maße finden, ist der Trend weg vom Erlebnis eines Liveauftritts einer unbekannten Band oder eines Kabarettisten nachvollziehbar.
Da müßte man ja selbst nachdenken, da gibt es vielleicht mal Fehler oder eine schiefe Note. Ich glaube echt, das ist einigen Leuten schon zuviel.
Also: Mache Deine Kunst für die Leute, die sie auch verstehen, oder zumindest versuchen möchten sie zu verstehen. Auf die anderen kannst Du getrost verzichten…
Gruß
Steve
7. Oktober 2010 at 15:54
Moin Jürgen,
ich weiß ja, dass Du mit Deinem Beitrag auch provozieren und zum Diskutieren anregen möchtest, doch halte ich Deinen Beitrag nicht ausdifferenziert genug und förderlich. Ich nehme also Deine Vorlage auf und kommentiere etwas überspitzt einfach mal drauf los:
Ich bin überrascht, welche Haltung zum Teil in Deinem und auch in dem Kommentar Steves zu Tage kommt. Schon Kapt’n Blaubär sagt: „Geschmäcker sind verschieden, so wie’s die Leute sind.“. Es scheint mir fast, dass Du beleidigt bist, da Dein Geschmack in Leer nicht wirklich geteilt wird. Anmaßend wird es, wenn man einen geringen Anspruch der jungen Ostfriesen suggeriert (anmaßend wird es auch, wenn man Studierenden einen höheren -ich würde sagen: anderen-Anspruch unterstellt. Unterscheidet sich meiner Wahrnehmung nach oftmals garnicht.) oder diesen ein nach Alkoholkonsum strukturiertes Ausgehverhalten unterstellt.
@ Steve: Wenn du sagst, dass einigen Leuten „selbst nachdenken“ oder ein schiefer Ton schon zuviel ist, glaube ich, du unterschätzt eindeutig die Menschen. Zumal man etliche schiefe Töne bei Konzerten von Künstlern, die in den Charts vertreten sind, zu hören bekommt, wenn sie denn überhaupt live singen.
Ich kenne mich mit den Gegebenheiten in Leer leider nicht aus. Meine wenigen Aufenthalte beschränken sich auf Warten am Bahnhof und dem Besuch des Gallimarktes (Welcher Anspruch stand da nur hinter?). Sicherlich gibt es einen Mainstream-Geschmack à la Mario Barth. Wenn ich eure Beiträge richtig deute, gibt es ja doch einige Veranstaltungen in Leer, die diesen treffen (Poetry Slam, Atzenmusik …), wenn anderweitige kulturelle Veranstaltungen nicht besucht werden, hat dies meiner Meinung nach neben zahlreichen anderen zwei Hauptgründe:
1. Es ist nicht deren Geschmack! Abseits des dominanten Mainstreams gibt es eine unglaubliche Ausdifferenzierung. Platt ausgedrückt: Für spezielle Angebote wie genanntes Indie-Konzert gibt es womöglich in Leer kein Publikum (Dies ist auch in größeren Städten wie Oldenburg zu beobachten.). Zudem geht ja auch nicht jeder Indie-Fan sogleich zu einem Konzert dieses Genres, nur weil es angeboten wird. Vielleicht würde er gerne, spart sein Geld aber lieber für das Atzenkonzert (oder setzt ganz andere Prioritäten). Auch dies ist denkbar, scheint mir von Euch jedoch keine Beachtung zu finden.
2. Potentielle Besucher werden nicht aktiviert! Am wahrscheinlichsten scheint mir dieser Grund. Vordergründig ist hier natürlich die Werbung zu sehen. Es wurden die Presse oder auch die Veranstalter angesprochen. Darüber hinaus und wesentlich wichtiger scheint mir, die Leute überhaupt erst auf den „Geschmack zu bringen“, was natürlich ungleich schwieriger ist. Wer Barth mag wird womöglich Pispers lieben, nur hat er von diesem noch nie gehört. Ein Veranstalter wird aber auch keinen Pispers holen, wenn nicht nach diesem gefordert wird.
In diesem Sinne komme ich zu dem versöhnlichen Ende, dass der Gastbeitrag Jürgens doch ein erster Schritt, wenn auch nicht in die ganz richtige Richtung, ist. Schreibt an die Veranstalter und dem Fachdienst Kultur der Stadt Leer. Sagt euren Lehrern, ihr wollt mit der Klasse ins Theater oder ähnliches. Und. Und. Und. Mit den Worten Jürgens: Traut euch!
9. Oktober 2010 at 21:52
Hallo,
auch wenn ich Käpt’n Blaubär nicht als verläßliche Quelle ansehe, ist es natürlich wahr, dass die Geschmäcker verschieden sind.
Trotzdem sammeln sich viele dieser „Individuen“ in dem großen Sammelbecken des Einheitsbreis.
Diese Tendenz wird durch die gängigen Radiosender, die Fernsehstationen und die BILD massiv gestützt.
Das ist zwar jetzt eine allgemein gesellschaftskritische „Anamnese“, aber dort liegt auch die Wahrheit für Jürgens anliegen.
Du hörst und siehst in Radio und TV was gut und was schlecht ist und brauchst eigentlich nicht mehr zu denken. Selbst dein Musikgeschmack wird dir vorgegeben, weil das ja so eine tolle Single ist.
Bestes Beispiel: Take That mit Robbie: Die hätten doch ihre Fürze aufnehmen können, es wäre Platz 1 geworden.
Und das meinte ich mit den schiefen Noten: Laßt doch mal eine weniger professionelle Darbietung auf euch wirken und gebt dieser eine echte Chance. Die Leidenschaft dahinter ist bestimmt deutlich größer als bei professionellen Auftritten.
So far, so good
Steve
12. Oktober 2010 at 08:43
Atzenmusik und mein geliebter Poetry Slam in einem Zusammenhang?! Bäh! Ich denke der Veranstaltungscharakter vom Poetry Slam als solches und auch von dem in Leer zeigt: Geschmäcker sind verschieden – der eine mags lustig, der andere nachdenklich, beides wird geboten. Deinen Unmut, Jürgen, kann ich verstehen, nur an der Lösung muss gearbeitet werden.
12. Oktober 2010 at 09:24
Hallo Annika,
ich glaube nicht, dass Jürgen Atzen und den Slam in einen Sack stecken wollte…
Was Poetry Slam überall geschafft hat, nämlich Event mit Literatur zu verbinden, ist selten genug. Und es steckt ein wenig von der Lösung drin, die Du ansprichst. Dass daneben das Ballermann-Publikum auch befriedigt werden darf, steht außer Frage…
Gruß,
Carsten
12. Oktober 2010 at 16:04
Verstehe die Problematik nicht so… wenn diese Indiebands hier nicht so gut ankommen, müssen sie entweder eine an den Bedarf angepasste kleinere Veranstaltung anbieten oder es sein lasen, wenn sie auf so wenig Besucher keinen Bock haben. Man braucht sich aber doch nicht über Geschmacksfragen beklagen?
Und dass sich ein entsprechend umfangreicheres Indie-Publikum aus den lokalen Printgähnien rekrutieren ließe, glaub ich ehrlich gesagt auch nicht.
27. Oktober 2010 at 11:14
So, lasst uns einen neuen Versuch starten:
http://www.myspace.com/gutemusikisteinfachbesser